
Scham, Schuld und Alleinsein – Tabuthema Schwangerschaftsunterbrechung
Es ist erschreckend, wie oft Frauen mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch alleingelassen werden. Dieser Schritt wird immer noch oft tabuisiert, was viele Frauen in eine tiefe Isolation treibt. Scham und Schuld sind häufige Begleiter, und das macht es umso schwieriger, sich zu öffnen. Aber was, wenn wir den Mut hätten, hinzuschauen und über das zu sprechen, was uns belastet?
Die Unsichtbare Wunde
Die Auswirkungen einer Schwangerschaftsunterbrechung sind nicht immer sichtbar. Doch sie hinterlassen tiefe, unsichtbare Spuren. Es fühlt sich an wie eine Wunde, die tief im Inneren wächst und nicht heilen kann. Trauer, Wut, Schuld und manchmal sogar körperlicher Schmerz – diese Gefühle können sich in uns verstecken, doch sie sind da. Wenn wir sie verdrängen, wachsen sie weiter. Doch was braucht es, damit diese Wunde endlich Heilung finden kann?
Es geht nicht um „eine Lösung“, sondern um das Annehmen und Fühlen dessen, was da ist. Die Antwort liegt oft in der ehrlichen Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen. Es geht nicht ums Wegschauen oder Unterdrücken, sondern ums Spüren, was in diesem Moment wirklich da ist. Was brauche ich jetzt wirklich? Was hilft mir, diesen Schmerz zu durchleben und ihn nicht weiter zu verdrängen? Echte Selbstfürsorge beginnt mit dieser ehrlichen Selbstbegegnung.
Der Bedarf an einem sicheren Raum
Ein sicherer Raum ist der erste Schritt auf dem Weg zur Heilung. Ein Ort, an dem alles da sein darf – ohne Urteil. Schmerz, Wut, Tränen und all die anderen Emotionen dürfen sich zeigen. Genau das fehlt vielen Frauen: Die Möglichkeit, sich ohne Angst vor Verurteilung auszudrücken. Ein solcher Raum schafft die Grundlage für Heilung, weil er den Druck wegnimmt, perfekt sein zu müssen und Scham abzulegen.
Psychische Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen: Studienlage
Die wissenschaftliche Forschung zum Thema Schwangerschaftsabbruch und seine psychischen Folgen ist umfangreich. Eine systematische Übersichtsarbeit der American Psychological Association aus dem Jahr 2008 kam zu dem Schluss, dass ein Schwangerschaftsabbruch im ersten Trimester aus nichttherapeutischen Gründen nicht mit einem erhöhten Risiko für psychische Probleme verbunden ist. Die Studie identifizierte jedoch Risikofaktoren wie wahrgenommene Stigmatisierung, geringe soziale Unterstützung und vorangegangene psychische Probleme, die das Risiko erhöhen können (de.wikipedia.org).
Ein weiteres Review des National Collaborating Centre for Mental Health aus dem Jahr 2011 bestätigte diese Ergebnisse und betonte, dass die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch nicht direkt mit der Entwicklung psychischer Störungen verknüpft ist (de.wikipedia.org).
Es ist wichtig zu beachten, dass individuelle Erfahrungen variieren können und die genannten Studien allgemeine Tendenzen widerspiegeln. Bei persönlichen Sorgen oder Fragen ist es ratsam, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Tanya – eine Geschichte aus meiner Praxis
Heilung ist ein individueller Prozess, der Geduld und Mitgefühl erfordert. Doch sie ist möglich. In meiner Praxis hatte ich eine Klientin, Tanya, 54 Jahre alt, die eines Tages völlig aufgewühlt zu mir kam. Ihr jüngster Sohn hatte immer wieder Schwierigkeiten – sei es in der Schule oder mit seiner Ausbildung. Trotz der schwierigen Trennung der Eltern hatten die beiden älteren Kinder ihren Weg gut gemacht, aber bei ihm war sie sich nicht sicher, was los war. Sie machte sich Sorgen.
Im Gespräch stellte sich heraus, dass ihr jüngster Sohn das vierte Kind war. Die dritte Schwangerschaft musste sie damals abbrechen – es war einfach zu viel Stress mit ihrem Partner, sie war krank und die anderen Kinder noch zu klein. Und obwohl 18 Jahre vergangen waren, konnte sie den Verlust nie wirklich loslassen. Diese Trauer hatte einen Platz in ihr eingenommen, der immer noch spürbar war.
In der systemischen Therapie wird deutlich, wie wichtig es ist, dass jedes Kind seinen Platz in der Familie findet. In Tanyas Fall war der jüngste Sohn emotional das vierte Kind, während das dritte Kind, das sie sich als Mädchen vorstellte, keinen Platz hatte. Wir haben mit dem Familienbrett die Situation aufgestellt, das dritte Kind bekam seinen Platz und auch der jüngste Sohn seinen. Es war ein Moment voller Trauer, aber auch voller Heilung.
Nachdem Tanya sich wieder beruhigt hatte, spürte sie eine Erleichterung, die sich in den folgenden Tagen verstärkte. Der Schmerz, die Schuld und die Trauer, die sie so lange getragen hatte, begannen langsam zu weichen. Auch ihr jüngster Sohn, der lange distanziert war, meldete sich und sie führten ein tiefes Gespräch. Es war der Anfang einer Veränderung – er begann, in seinem Leben aktiv etwas zu verändern.
Du bist nicht allein
Wenn du dich in diesen Worten wiedererkennst, möchte ich dich einladen, dir Raum für deine Gefühle zu nehmen. Du bist nicht allein. Es gibt Unterstützung, die dir hilft, den Weg zur Heilung zu finden. Ich hoffe, du holst dir die Hilfe, die du brauchst und erlaubst dir die Selbstfürsorge, die du verdienst.
Ich arbeite seit vielen Jahren systemisch und bin immer wieder beeindruckt, wie tiefgreifend solche Prozesse sind. Das Familienbrett als Methode der systemischen Therapie zeigt immer wieder, wie wichtig es ist, Raum für die Gefühle zu schaffen und die eigene Geschichte zu heilen.