Ein Begriff, der mir in der Therapie oft begegnet, ist Selbstfürsorge. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass viele Menschen Selbstfürsorge mit Selbstoptimierung verwechseln. In der heutigen Zeit haben wir Zugang zu einer Fülle von Wissen – unzählige Selbsthilfebücher, Podcasts und andere Medien, die uns Ratschläge geben. Doch diese Informationen sind häufig mit vielen „SOLLs“ verbunden: Du sollst dich gut ernähren, du sollst dich bewegen, du sollst eine gute Work-Life-Balance haben, du sollst auf dich achten, deine Grenzen respektieren, auf deinen Körper hören. Das klingt erst einmal richtig und sinnvoll.
Was ich jedoch immer wieder erlebe, ist, dass das „WIE?“ dabei viel zu kurz kommt. Für Menschen, die sich in einer schwierigen Lebensphase befinden, mit alten Traumata kämpfen oder einfach erschöpft sind, können diese gut gemeinten Ratschläge schnell zu einer großen Überforderung werden. Sie wissen, was theoretisch gut für sie wäre, aber sie haben keine konkrete Vorstellung davon, wie sie das in ihren Alltag integrieren sollen. Hinzu kommt, dass viele sich dann selbst die Schuld geben, wenn es ihnen schlecht geht oder sie diese „SOLLs“ nicht umsetzen können. Dieser innere Vorwurf, nicht genug zu tun oder nicht gut genug zu sein, verstärkt das Gefühl der Überforderung und führt dazu, dass sie sich noch schlechter fühlen.
Selbstfürsorge bedeutet jedoch etwas anderes. Es geht darum, sich selbst gut zu behandeln und auf das zu hören, was man gerade wirklich braucht. Selbstfürsorge ist kein weiterer Punkt auf der To-do-Liste, den man abhaken muss. Vielmehr geht es darum, sich selbst mit Freundlichkeit und Geduld zu begegnen, sich die Zeit zu nehmen, den eigenen Zustand wahrzunehmen und herauszufinden, was in dem Moment wirklich wichtig ist.
Was ich bei vielen meiner Klient*innen beobachte, ist die Hoffnung, dass „wenn ich irgendetwas Gutes für mich tue, es mir besser gehen wird.“ Doch was passiert, wenn man beispielsweise eigentlich Ruhe braucht und stattdessen joggen geht, weil man gehört hat, dass Sport gut gegen Stress ist? Man fühlt sich vielleicht hinterher sogar schlechter. Oder man entscheidet sich, sich auszuruhen, fühlt sich aber schuldig, weil man denkt, dass Sport einem doch hätte guttun sollen. Und so bleibt man oft in einer Spirale aus Zweifeln und innerem Druck gefangen, die schwer zu durchbrechen ist.
In meiner Arbeit mit vielen Klient*innen habe ich deshalb einen ersten wichtigen Schritt eingeführt: wieder zu lernen, sich selbst zu spüren. Für viele ist es eine schmerzhafte Erkenntnis, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse oft gar nicht mehr richtig wahrnehmen können. Diese innere Trennung zwischen dem, was man braucht, und dem, was man tut, kann zu einem ständigen Gefühl des Unbehagens und der Überforderung führen. Und genau an diesem Punkt beginnt echte Selbstfürsorge.
Was also tun? Wie kann man den Weg zu sich selbst wiederfinden, ohne in die Falle der Selbstoptimierung zu geraten?
Ich empfehle eine kleine Übung mit drei Fragen, die man sich regelmäßig stellen kann:
- Wie geht es mir – auf körperlicher Ebene?
- Wie geht es mir – auf emotionaler Ebene?
- In welcher Zeit bin ich gerade – im Hier und Jetzt, in der Vergangenheit oder in der Zukunft?
Diese drei einfachen Fragen können ein Einstieg in die Selbstfürsorge sein. Doch selbst sie zu beantworten, fällt vielen schwer. Oft stellen meine Klient*innen fest, dass es ihnen nicht leichtfällt, präzise Antworten zu finden. Wir sind es gewohnt, in allgemeinen Aussagen zu denken wie „Mir geht’s irgendwie nicht gut“, anstatt genauer hinzuschauen. Zum Beispiel: „Ich habe schlecht geschlafen und bin müde“, „Ich habe etwas gegessen, das mir nicht bekommt und fühle mich flau im Magen“ oder „Ich habe schlechte Nachrichten bekommen und bin traurig.“ All diese Zustände sammeln wir oft unter dem vagen Begriff „Es geht mir nicht gut“.
Doch in diesem diffusen Gefühl haben wir wenig Handhabbarkeit. Je genauer wir jedoch lernen, unsere Empfindungen und Zustände zu benennen, desto eher können wir gezielt darauf reagieren. Deshalb lade ich dazu ein, es mit diesen drei Fragen zu probieren.
Wenn es dir schwerfällt, klare Antworten zu finden, ist das vollkommen in Ordnung. Nimm es einfach wahr, ohne dich unter Druck zu setzen. Es ist ein Prozess, der Zeit braucht. Probiere es am nächsten Tag wieder und am übernächsten auch. So signalisierst du dir selbst, dass du bereit bist, aufmerksam zu sein und die eigenen Bedürfnisse zu spüren. Du gibst dir selbst die Erlaubnis, neugierig zu bleiben, und wartest (geduldig oder auch mal ungeduldig), bis die Antworten kommen.
Das Entscheidende dabei ist, dass du dich nicht verurteilst. Sei milde mit dir selbst, wenn es dir schwerfällt. Denn genau das ist Selbstfürsorge – sich nicht zu etwas zu zwingen, sondern sich auf dieses kleine innere Abenteuer einzulassen. Es geht darum, sich immer wieder zu korrigieren und zu verfeinern, ohne dabei in den Optimierungsdrang zu verfallen. Mit der Zeit lernst du, deine Bedürfnisse klarer zu spüren und kannst auf eine Weise für dich sorgen, die sich wirklich richtig anfühlt.